Die Angstneurose. Mit zwei Analysen nach Freud und Jung by Wilhelm Bitter
Autor:Wilhelm Bitter [Bitter, Wilhelm]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783105608685
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-12-27T16:00:00+00:00
Diese Lebensgeschichte ist durchaus nicht die einer geborenen Verwahrlosten, sonst wäre die Patientin nicht so schwer phobisch erkrankt und selbstmordgefährdet, vielmehr ist ihr erotischer Trieb in ständigem Konflikt mit den Ich-Trieben, den moralischen Instanzen in ihr. Sie ist ein tragischer, weiblicher Don Juan, nicht fähig, wirklich zu lieben und sich zu binden; im Grunde ewig auf der Suche nach ihrer eigenen Seele. Hier könnte man auch die Psychologie C.G. Jungs anwenden (Archetypen des Animus und Schattens). Der Machtwille (Adler), die Tendenz »oben zu sein«, geht gleichfalls aus dieser Lebensbeschreibung hervor. Der sexuelle Triebkonflikt ist jedoch in diesem Krankheitsbild so vorherrschend, daß es in erster Linie unter Freudschen Gesichtspunkten gesehen werden muß. Jedesmal, wenn sie sich auf die Straße, auf belebte Plätze, in einen Eisenbahnzug, in eine Straßenbahn, in einen Konzertsaal, in ein Restaurant begibt, verursacht der innere Konflikt einen Alarm. Das Ergebnis sind schwerste Angstanfälle, die nur vermieden werden, wenn die Patientin sich begleiten läßt. – Das Lebensbild gibt zugleich einen Einblick in den hysterischen Charakter. – Die Patientin ist unheilbar, weil sie nicht mitarbeitet. Zu den seltenen Träumen bringt sie keine Assoziationen; sie ist nicht zu irgendwelcher sonstiger Preisgabe unbewußter Vorgänge zu bewegen, weder durch Zeichnen, Plastellieren, noch in Wachphantasien. Ihre abnorme Selbstverliebtheit, ihr Narzismus und der fehlende Leidensdruck verhindern die Möglichkeit einer Wandlung. So hat sich in den 15 Jahren der Erkrankung trotz vier längerer Analysen aller Richtungen das Krankheitsbild zunehmend verschlechtert.
Von Freudscher Seite ist mit Recht auf die häufigen Zusammenhänge zwischen Sexualtrieben und Aggression hingewiesen worden, und zwar richtet sich die Aggression besonders gegen die Begleitpersonen.
Wir haben in der Kasuistik und auch in der ausführlich beschriebenen Krankengeschichte von Frl. Elisabeth die schwere Ambivalenz, verbunden mit unbewußten Beseitigungstendenzen gegenüber der Begleitfigur, aufzeigen können. Eine andere Patientin (Fall 24, S. 150) wurde sich nach wenigen Analysestunden ihres mörderischen Hasses gegen ihren Ehegatten bewußt. In der Realität hatte sie nichts gegen ihn einzuwenden, er trug sie auf Händen und begleitete sie auch ohne Klagen überallhin. Meine Patientin war selbst erstaunt über ihre Mordgelüste, sie hätte ihn, wie sie sich ausdrückte, zerreißen mögen und tat das symbolisch, indem sie sich in einem Wutanfall auf ihn stürzte und seinen Pyjama in Stücke riß!
Die Freudsche Schule will in der unbewußten Versuchung, eine Straßendirne zu werden, und in der dadurch verursachten Platzangst auch eine Äußerung der Aggressivität erkennen. Freud stellt später bekanntlich den Destruktions- oder Todestrieb (hier »primärer Masochismus«) dem erotischen Trieb gegenüber. In ähnlicher Einseitigkeit und Überspitzung der Freudschen Theorien werden vielfach die Raumsymbole gedeutet. Hinter allem steht die konkrete Kastrationsdrohung. Das Schreiten auf dem Boden, der Erde, soll deshalb phobische Angst auslösen, weil es für die Patientin bedeutet: auf den Leib der Mutter treten, deren Leibesfrucht töten. Die Patientin sollte es sein, die vom Vater geschwängert war, nicht die Mutter. Oder: der freie Platz soll Leere bedeuten = kastrierte Mutter. Oder: das begleitende Kind wird zum Penis-Ersatz. Oder: die Tunnelangst heißt beim männlichen Phobiker: ich bin kastriert, ich kann nicht »eindringen«. – Wir werden an einem Fall von Hundephobie eines Knaben darlegen, daß die Angst vor konkreter Kastrierung in einzelnen Fällen nicht von der Hand zu weisen ist.
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